Igor Stravinsky
Le Sacre du Printemps
Pierre Boulez – Cleveland Orchestra – 1991
Der Komponist
Igor Stravinsky gehört zu den zentralen Komponisten des 20. Jahrhunderts und ist zugleich eine Schlüsselfigur der Neuen Musik. Er wurde am 17. Juni 1882 in Oranienbaum bei St. Petersburg geboren und starb am 17. Juni 1982 in New York City. Trotz seiner fraglos großen musikalischen Begabung studierte er zunächst Rechtwissenschaften, ein Studium, das er 1903 erfolgreich abschloß. Direkt danach aber wurde er Privatschüler von Rimski-Korsakow und kam in Kontakt mit Sergei Diaghilev, dem Gründer und Leiter der in Paris arbeitenden Tanzgruppe ´Ballets Russes`, für die er zwischen 1908 und 1913 drei seiner erfolgreichsten Werke schrieb: ´Der Feuervogel`, ´Petrouchka` und ´Le Sacre du Printemps`. 1914 verliess Stravinsky seine russische Heimat, lebte zunächst in der Schweiz, in Frankreich und ab 1940 endgültig in den USA. Sein musikalischer Stil wird als Neoklassizismus beschrieben, als Verbindung traditioneller Formen mit Polytonalität und einer exzessiven Rhythmik. In seiner Spätphase versuchte sich Stravinsky auch erfolgreich an der Einbeziehung serieller Komponenten in seinen eigenen Stil.
Das Werk
´Le Sacre du Printemps` löste bei der Uraufführung am 29. Mai 1913 im Theater des Champs-Élysées einen der größten Skandale in der Geschichte der Neuen Musik aus, vermutlich weniger wegen der Komposition Stravinskys, sondern eher durch die Choreographie von Vaclav Nijinskys. Das Stück ist zweiteilig, die sich grob wie folgt beschreiben lassen. Teil 1 (Die Anbetung der Erde) beschreibt die Vorbereitungen des ´eigentlichen` Opfers mit einem ´Frühlingsreigen`, den ´Tänzen der rivalisierenden Stämme`, einer ´Prozession des alten Weisen` zum abschließenden ´Kuss der Erde`. Teil 2 (Das Opfer) wird eingeleitet vom ´Mystischen Reigen der jungen Mädchen` gefolgt von der mit kräftigen Schlägen des Schlagwerks eingeleiteten ´Verherrlichung der Auserwählten`. Noch einmal kommen die Ahnen ins Spiel, dann beginnt – eingeleitet von tiefen Klarinetten-Klängen – der Opfertanz, nicht zu überbieten in seiner rhythmischen Erbarmungslosigkeit, am Ende ertönt ein schrecklicher, trockener Tuttischlag, der den Tod des Mädchens verkündet. Schluß!
Der Dirigent
Pierre Boulez wurde am 16. März 1925 in Montbrison (Loire) geboren. 1943 begann er Komposition bei Olivier Messiaen am Pariser Konservatorium zu studieren, später kamen Studien bei René Leibowitz hinzu, einem Schüler Arnold Schönbergs. Bildete zunächst die kompositorische Tätigkeit den Schwerpunkt seines Schaffens, verlegte sich Boulez als Autodidakt mit zunehmendem Alter immer mehr auf das Dirigieren, u.a. als Leiter des BBC Symphony Orchestra (1971-77) und gleichzeitig der New Yorker Philharmoniker und häufig als Gastdirigent der Berliner und Wiener Philharmoniker und diverser weiterer bedeutender Orchester. Wagner-Liebhaber werden seine Bayreuth-Dirigate nicht vergessen haben: 1966 leitete er den ´langsamsten` Parsifal und 1976 dirigierte er die später als ´Jahrhundert-Ring` bezeichnete Inszenierung von Patrice Chéreau. Seine Einspielungen sind durchweg gekennzeichnet von instrumentaler Durchsichtigkeit und großer rhythmischer Präzision, er sieht seine Funktion vor dem Orchester eher als ´Koordinator`. Pierre Boulez lebte seit Beginn der 60er Jahre in Baden-Baden, dort starb er am 5. Januar 2016.
Die Interpretation
Es sollen etwa 200 Aufnahmen von ´Le Sacre du Printemps` existieren, aufgenommen in einem Zeitraum von knapp 100 Jahren von 1929 bis heute (2025), wobei gerade 1929 ein sehr wichtiges Jahr für die Sacre-Diskografie ist, denn es erschienen zwei hochspannende Aufnahmen: Pierre Monteux, der Leiter der Uraufführung und der Komponist höchstpersönlich stellten in diesem Jahr ihre Vorstellungen von der adäquaten Umsetzung der Partitur vor. Beide legten eine zweite Aufnahme vor (Monteux 1951, Stravinsky 1960), in allen vier Fällen: authentischer geht es nicht, auch wenn das Klangbild naturgemäß nicht heutigen Vorstellungen entspricht. Damit haben wir zwei wichtige Dirigenten genannt, aber die Reihe ließe sich erheblich erweitern, einschließlich Pierre Boulez, dessen Aufnahme aus dem Jahr 1991 mit dem Cleveland Orchestra hinsichtlich Transparenz, rhythmischer Präzision, dem Gespür für die innere musikalische Verbindung der Motive und letztlich völliger Kontrolle über das orchestrale Geschehen. Daneben sind viele weitere Einspielungen sehr empfehlenswert, von denen ich folgende als Vergleichsinterpretationen empfehlen würde: der wilde, expressive Bernstein (1963), Gergiev als russischer Exponent (1999), Rattle (2003) oder Chailly mit dem Concertgebouw Orchester (2010).